20.00 Uhr
Weihnachtskonzert des Georg-Friedrich-Händel-Gymnasiums
Bevor sie zu uns kommen, besuchen wir sie in ihren Kiezen: Die Musiker*innen unserer neuen Reihe „Tracks – Musik der Stadt im Konzerthaus“. Das erste Konzert spielen Ensemble CONTINUUM und seine Gäste von Frames Percussion am 14. & 15. November.
Mit Cembalistin Elina Albach, geboren und aufgewachsen in West-Berlin, und Gambist Liam Byrne, in London ausgebildet und seit 2017 Wahlberliner, haben wir uns in Schöneberg zwischen Nollendorfplatz und Winterfeldtkiez getroffen.
An einem Mittwoch unter grauem Oktoberhimmel ist der Winterfeldtmarkt bei weitem nicht so belebt wie an Samstagen, wenn sich halb Schöneberg zwischen brandenburgischem Grünzeug, nahöstlichen Tapas, Mützen aus Alpakawolle und italienischen Desserts trifft. Im Vorübergehen empfiehlt Cembalistin Elina Albach hier Kürbisse und Äpfel, deutet dort auf große Schüsseln in einer Glasauslage: „Dieses Tiramisu ist das allerbeste.“ Der Markt gehört zu ihrem Schöneberg – wie das vegane chinesische Lieblingsrestaurant oder der stadtbekannte Bastelladen ein paar Straßenecken weiter. In dem hat sie in den 1990ern Dekorationen für den eigenen Kindergeburtstag ausgesucht, inzwischen kommt sie mit ihrem kleinen Sohn her. Das Schokoladencafé, in das die Musikerin uns führt, hat noch seine Gründerzeiteinrichtung und war mal eine Apotheke.
Nicht nur der Westen Berlins, wo sie aufgewachsen ist und lebt, ist Elina Albachs Heimat: „Mit 14, 15 habe ich angefangen, sehr viel Kammermusik mit Schüler*innen vom Bach-Gymnasium [der ehemaligen Ost-Berliner Spezialschule für Musik in Mitte] zu spielen. Bald war ich dauernd in der Stadt unterwegs, an der Hanns Eisler, am Kotti oder auch an der Spree beim Radialsystem, wo noch ganz viel unbebaut war. Es gab damals ein unglaubliches Gefühl von Freiheit.“
Mit 18 ging sie an die Musikhochschule ins „ordentliche, saubere“ Basel: „Da habe ich Berlin so vermisst, dass ich schon während des Studiums wieder zurückgezogen bin. Immer, wenn ich aus der U-Bahn stieg, habe ich tief eingeatmet und gedacht, dieser Duft, der hat mir gefehlt – jetzt bin ich zu Hause.“
Zurück in der Stadt und frisch nach Schöneberg gezogen fing Elina 2011 an, mit dem vielgefragten Solistenensemble Kaleidoskop zu spielen – eine enorm prägende Erfahrung: „Das war mein allererster Kontakt zu zeitgenössischer Musik. Deren Art, Musik und Konzerte zu denken, war anders als alles, was ich bis dahin gemacht hatte und typisch für Berlin in dieser Zeit. Geprobt wurde einfach an irgendwelchen Orten. Da habe ich mein Cembalo auch schon mal in einen siebenten Stock getragen. Es gab Dachkonzerte, bis die Polizei kam, Kiezopern im Bauwagen in der Wilden Renate oder unter freiem Himmel. Gerade nach dem Studium, als ich ganz viel ausprobieren wollte, gab es viele dieser inspirierenden Orte. Die Stadt war eine Riesenspielwiese für uns. Darauf blicke ich heute mit Wehmut, aber andererseits hat sich mein Leben seitdem so verändert, dass vieles davon nicht mehr dazu passen würde.“
Liam Byrne hat schon als Londoner Student davon geträumt, eines Tages in Berlin zu leben. Vor acht Jahren ist das Wirklichkeit geworden. Was zeichnet die Städte aus dem Blickwinkel eines freischaffenden klassischen Musikers aktuell aus?
„In London hat die Finanzkrise 2008 sehr viel geändert. Sie war ein wichtiger Anfang für die Entstehung einer gewissen Klassik- und Undergroundszene, in der die Leute kollektiv wirklich etwas Neues aufgebaut haben. Die großen Spielorte haben schnell darauf reagiert und dafür ihre Türen geöffnet. Was ich an Berlin besonders mag, ist die Offenheit der Zeitnutzung hier. Dadurch gibt es diese Energie in der Stadt, diese Flexibilität. Musik hat unfassbar viel mit Zeit zu tun. Das Gefühl, dass ich Zeit nach meinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen gestalten kann, ist musikalisch wichtig für mich. Großartig finde ich, dass es hier nicht nur eine professionelle, sondern auch eine rein künstlerischen Szene gibt. Viele Leute wohnen in Berlin wegen der Lebensqualität und der Lebenshaltungskosten und reisen dann von hier aus zu ihren Konzerten und Ensembles. In Berlin trifft man sich, baut Verbindungen auf. Es gibt weiter viele Gelegenheiten, Hauskonzerte und Ähnliches zu spielen. Diese unstrukturierte Musizieren zwischendurch, das Ausprobieren finde ich immer noch sehr wichtig. Es kostet meiner Ansicht nach gar nicht so viel, dass Künstler in einer guten Situation arbeiten können. Und was dabei herauskommt, ist riesig. Meine eigene Praxis hat sich krass entwickelt, seitdem ich nach Berlin gezogen bin. In London hatte ich Erfolg, aber ich war immer erschöpft. Ich habe enorm viel gearbeitet und hatte am Ende des Tages fast nicht genug Geld, die Miete zu zahlen.“
Ohne eine künstlerische Szene hätte Berlin in den letzten 30 Jahren nicht dieselbe Entwicklung genommen, ist sich Elina sicher: „Ob Musik, bildende Kunst oder Clubkultur – Kultur ist das, was diese Stadt ausmacht. Und damit meine ich nicht nur Hochkultur, sondern alles, was stattfindet, in Wohnungen, Kellern, irgendwo. Deswegen ärgere ich mich auch so über die Haushaltsdebatte. Das Wetter hier ist sicher nicht der Grund, warum so viele Besucher*innen herkommen.“
Wie funktioniert die Zusammenarbeit bei Ensemble CONTINUUM? „Es gibt einen Kern von Musiker*innen und Sänger*innen, von denen viele in Berlin leben. Sie sind immer wieder dabei, aber niemand ist fest angestellt. Wer zum Beispiel phantastisch Bach spielt, aber nicht so gern Steve Reich, setzt bei diesem Projekt einfach aus. Das gibt eine angenehme Flexibilität“, beschreibt Elina als Künstlerische Leiterin die Organisation. „Dieses Mal sind wir recht viele Mitwirkende, zumal noch Frames Percussion aus Barcelona dabei sind. Sie wurden letztes Jahr mit dem Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet. Seit ich sie bei einem Konzert kennengelernt habe, wollte ich unbedingt gemeinsam mit ihnen etwas machen. Genau wie Berlin hat ihre Heimatstadt den Ruf, sehr offen zu sein und viele spannende Künstler*innen anzuziehen. Diese Vibes verbinden!“
Musikalische Verbindungen haben Elina Albach und Liam Byrne auch zwischen dem US-amerikanischen Komponisten Steve Reich und der Komponistin Chiara Margarita Cozzolani, einer Mailänder Benediktinernonne des 17. Jahrhunderts ausgemacht.
„Interessant finde ich, dass die Rhythmen bei Steve Reich wie bei Cozzolani sehr von den Texten der jeweils verwendeten Psalmen inspiriert sind. Reich hat sich in seinen Psalmenvertonungen ‚Tehilim‘ mit der jüdischen Tradition seiner Familie beschäftigt. Eine lebendige musikalische Tradition zu diesen Texten existiert nicht, und er schrieb, gerade deswegen habe er sie ausgewählt“, erzählt Liam. „2019 hatte ich die Ehre, ihn kennenzulernen. Er beschrieb mir damals, dass es seine ursprüngliche Idee war, die Streicherstimmen auf Gamben spielen zu lassen. Aber irgendwie konnte das aus logistischen Gründen nie umgesetzt werden. Bis jetzt!“
Eine zunächst nicht untypische Biografie hatte Schwester Cozzolani, die als junges Mädchen von der Familie ins Kloster gesteckt wurde: „Und da kam sie nicht heraus. Viele Frauen begannen aber in dieser Situation, zu musizieren. Auch wenn Cozzolani heute wenig bekannt ist, war sie damals sehr erfolgreich als eine der wenigen komponierenden Nonnen, deren Stücke veröffentlicht wurden. Für mich ist ihre Musik vergleichbar mit der von Monteverdi. Allerdings ist von ihr weniger erhalten“, fasst Elina Albach zusammen. „Der Kontrast zwischen den Werken von Reich und Cozzolani ist groß. Aber da wir ähnliche Instrumente für beide Stile benutzen, glaube ich, dass ein Sog entstehen kann, der das gesamte Konzert durchzieht, so dass man irgendwann gar nicht mehr in Schubladen von alt und neu denkt.“ Außerdem hat der Berliner Komponist, Jazzmusiker und Schlagzeuger Max Andrzejewski kurze Überleitungen zwischen den Stücken geschrieben: „Er ist für uns eine der interessantesten Personen der Berliner Musikszene und versteht es besonders gut, verschiedene Welten zu verbinden.“