15.00 Uhr
Expeditionskonzert mit Joana Mallwitz
Vor 35 Jahren fiel keinen Kilometer vom Gendarmenmarkt entfernt die Mauer. Drei langjährige Mitglieder des Konzerthausorchesters (damals Berliner Sinfonie-Orchester) haben uns von ihren Eindrücken und ihrem Alltag im Herbst 1989 erzählt.
Unser Titelfoto greift etwas voraus, denn es hält ein Konzert fest, von dem während der bewegten Monate Oktober und November noch niemand etwas ahnen konnte: Leonard Bernstein dirigierte wenige Wochen nach dem Mauerfall am 9. November am Ersten Weihnachtsfeiertag ein „Berlin Celebration Concert“ mit Beethovens Neunter. Im Orchester spielten Musikerinnen und Musiker aus Ost- und Westdeutschland sowie aus den Ländern der vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs.
Im letzten Satz änderte Bernstein den Text: Statt der „Ode an die Freude“ wurde eine „Ode an die Freiheit“ gesungen. Viele, die damals im Publikum gesessen haben, erinnern sich noch Jahrzehnte später mit großer Rührung an diese eindrückliche Geste und die ganz besondere Stimmung des Konzerts, wie uns in den vor fünf Jahren geführten Zeitzeugeninterviews verschiedentlich berichtet wurde.
Friedemann Ludwig, unser Solo-Cellist seit 1988, stammt aus Dresden. Er hat miterlebt, wie aufgebracht die Menschen dort auf Schließung der tschechischen Grenze reagierten. Und er erinnert sich an die angespannte Stimmung im Orchester, als es einen Monat zuvor am 7. Oktober ein Festkonzert zum 40. „Tag der Republik“ spielen sollte.
„Es musste unbedingt was passieren, weil so konnte es auf keinen Fall weitergehen. Die ungarische Grenze war offen, und jetzt wurde diese tschechische Grenze geschlossen für uns. Das war ein ganz entscheidender Punkt, muss man wirklich sagen, wo die DDR-Bevölkerung noch einmal mehr dieses Gefühl des Eingesperrtseins erfahren hat. Und wir haben ganz hautnah miterlebt, wie diese Strecke dort belagert wurde nach dieser, man muss wirklich sagen, unglücklichen Entscheidung, die Züge nochmal über die DDR fahren zu lassen. Viele versuchten, die Züge abzupassen. Und deshalb ist es in Dresden auf dieser Strecke dann zu großen Eskalationen gekommen.
Das waren unsere vorgelagerten Erlebnisse. Wir hatten aber auch erwartet, dass wir in einen Dialog treten, und das fand eben nicht statt. Deswegen ist es in Dresden eskaliert, also wirklich mit gewalttätigen Demonstrationen. Es hat Steinwürfe gegeben und Verletzte auf beiden Seiten, Polizei und Demonstrierende. Da ging wirklich die Diskussion durch die Familien. Zum Teil mussten da Väter gegen Söhne stehen. Das war wirklich so, das ist nicht nur ein großer Begriff, sondern das war Wahrheit, war Realität, die durchaus vorkam – dass also jemand auf dem Schützenpanzerwagen saß und in die Menge reinfahren musste, wo vielleicht sein Sohn oder der Freund seines Sohnes dabei war. Da haben die sich natürlich geweigert. Das war also hochbrisant.
Aber zu meiner Situation. Wir hatten am 7. Oktober zum Festkonzert zum 40. „Tag der Republik“ zu spielen. Als Staatsorchester war das unsere Verpflichtung. Wir haben tatsächlich im Vorfeld eine Orchesterversammlung abgehalten, ob wir dabei spielen sollten, weil es doch aufgrund der ganzen Situation sehr fragwürdig geworden war. Niemand wusste, was wirklich mit dem Land wird, also welche Folgen daraus entstehen, wenn wir nicht spielen. Insgesamt haben wir uns dazu entschieden, erstmal dabei zu sein. Und ich musste aus dem Demonstrationshabitus in den Repräsentationshabitus kommen. Das war einfach mein Leben damals. Das war schon alles mit der großen Hoffnung verbunden, dass sich doch was verändert.“
Auch Christiane Ulbrich, seit 1986 im Orchester, ist gebürtige Dresdnerin. Bereits als die Mauer noch stand, unternahm das damalige Berliner Sinfonie-Orchester oft Tourneen ins Ausland, darunter die siebenwöchige „Weltreise“ 1988. Das hat die junge Geigerin besonders genossen: „Während die Kollegen im Bus gelesen haben, habe ich nur aus dem Fenster geschaut und die Landschaft in mich eingesogen. Ich dachte: „Wer weiß, wann du das das nächste Mal wieder sehen kannst?“ Wie bald sich diese Möglichkeit bieten sollte, war zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht absehbar.
Christiane Ulbrich beschreibt die dramatische Atmosphäre, in der am 7. Oktober das Festkonzert zum 40. „Jahrestag der Republik“ im Palast der Republik stattfand: „Draußen stand die tobende Menge, die skandierte: „Wir sind das Volk“ und „Gorbi, Gorbi“ – und wir guckten von drinnen nach draußen und fühlten uns ein bisschen eigenartig. Man war auf der falschen Seite, wo man eigentlich nicht hingehörte und auch nicht sein wollte. [...] Ich wohnte nicht weit weg und konnte nach Hause laufen, habe aber einen Kollegen gebeten, mich zu begleiten, weil ich einfach Angst hatte, alleine mit meinem Instrument durch die Straßen zu gehen. Man wusste ja nie, in welche Richtung die Situation geht und hatte auch Peking immer noch im Hinterkopf [den vom Militär gewaltsam niedergeschlagenen Aufstand der chinesischen Bevölkerung auf dem Tian'anmen-Platz am 3. und 4. Juni 1989; Red.].
Wenn man hier in Berlin mit seinen Mitteln etwas beitragen konnte, zum Beispiel als die Großkundgebung am Alex war, sind wir alle da gewesen. Das war schon spannend. Da war das Gefühl, es könnte sich jetzt etwas verändern. In welche Richtung diese Veränderungen dann gingen, habe ich damals nicht geahnt. Ich hätte nie gedacht, dass sich die beiden deutschen Staaten vereinen. Sie waren für mich eigentlich so konträr, dass ich dachte, das würde nie funktionieren.“
Aus dem Herbst 1989 besitzt die Geigerin ein kleines privates Archiv: „Ich habe Zeitungartikel gesammelt. Die waren für mich spannend, weil ich dachte, dass man das, was damals geschrieben wurde, sonst vergisst.“
Unser aus Thüringen stammender Hornist Andreas Böhlke, seit 1989 im Orchester, erfuhr vom Mauerfall buchstäblich auf dem Weg zur Bühne im Großen Saal. Am 9. November war er bei einem Konzert mit dem Berliner Sinfonie Orchester als Solo-Horn eingeteilt.
„Wir haben uns eingespielt und derweil, so gegen 19 Uhr, hat Schabowski seinen berühmten Satz [zur Ausreise; Red.] losgelassen. Das ist ja immer noch herrlich: „Ich glaube … ab sofort?!“ Wir standen dann neben dem Inspizientenkasten, und kurz bevor wir raus auf die Bühne sind, guckte da einer aus, der vielleicht ein Radio angehabt hat, und sagte: „Habt ihr schon gehört? Wir können in den Westen rüber, einfach so, mit dem Personalausweis.“ – „Was?“ – „Wirklich?“ – „Quatsch!“ – „Wir müssen rein. Bitte zur Bühne!“
So bin ich auf die Bühne, habe mich hingesetzt, und dann ging ein modernes Stück von Siegfried Stöckigt los. Am Anfang hatte ich so ein paar gestopfte Töne, ganz leise, mal ein paar leise Töne ausgehalten, mal so ein Akkord, also nichts Großartiges, aber immer mal so… Ich hab da gesessen, hab die Musik gehört und dachte: „Jetzt kannst du vielleicht in die Philharmonie – und in die Waldbühne!“ Dann stupste mich mein Nachbar an und ich merkte, dass ich schon zweimal dran gewesen wäre. So habe ich dann schnell meine Tönchen ausgehalten und bin dann leicht verwirrt von der Bühne.
Dann musste ich mich schwer sammeln, weil danach 7. Dvořák dran war. Ich war damals stellvertretender Solo-Hornist, habe also Erstes Horn gespielt. Das war eine ganz schöne Aufgabe. Ich war neu, musste mich also massiv konzentrieren.
Danach hab ich mir überlegt: „Was machst du jetzt?“ Und bin nach Hause nach Hellersdorf gefahren – eine ziemliche Strecke vom Konzerthaus neben dem Checkpoint Charlie. Als ich zu Hause war, haben wir im Fernsehen geguckt, wie die Trabis da rübergerollt sind. Nach meiner Erinnerung bin ich dann mit meiner Frau zwei oder drei Tage später über den Checkpoint nach West-Berlin. Zum Begrüßungskonzert mit Barenboim, 7. Beethoven in der Philharmonie! Und etwas später in die Waldbühne zu Tina Turner.“