15.00 Uhr
Expeditionskonzert mit Joana Mallwitz
Juilliard String Quartet
Areta Zhulla Violine
Ronald Copes Violine
Molly Carr Viola
Astrid Schween Violoncello
Ludwig van Beethoven (1770 – 1827)
Streichquartett B-Dur op. 130
Adagio ma non troppo – Allegro
Presto
Andante con moto, ma non troppo
Alla danza tedesca. Allegro assai
Cavatina. Adagio molto espressivo
Finale. Allegro
Jörg Widmann (*1973)
Streichquartett Nr. 8 (Beethoven-Studie III)
Allegro con brio
Variationen über Beethovens Alla danza tedesca (op. 130/4)
Rondo. Prestissimo
PAUSE
Jörg Widmann
Streichquartett Nr. 10 „Cavatina" (Beethoven-Studie V)
Ludwig van Beethoven
Große Fuge B-Dur op. 133
Ouvertura. Allegro – Fuga. Meno mosso e moderato – Allegro molto e con brio
„Teile der Fuge müssen in einem Weltraumsatelliten ausgebrütet worden sein“, meinte Igor Strawinsky. Keine Frage – mit seinen letzten Quartetten, und wahrlich nicht nur mit der Großen Fuge, ging Beethoven weit über die Grenzen der musikalischen Konvention hinaus. Allein schon die äußere Form ist ungewöhnlich: Haben die im unmittelbaren Umfeld entstandenen Quartette op. 132 und op. 131 fünf beziehungsweise sieben Sätze, sind es in Opus 130 sechs. Auch die klassische Sonatenform mit Teilen Exposition, Durchführung und Reprise muss hinter den Ausdruckswillen zurücktreten, wie schon der Eingangssatz des B-Dur-Quartetts zeigt: Weder zum Adagio noch zum Allegro bekennt es sich, die Konflikte sind permanent, die Tempi wechseln schließlich Schlag auf Schlag. Ist das kurze Presto, das Zerrissenheit vor allem im Auf und Ab der Dynamik offenbart, das Scherzo des Werks? „Gleitet“ das Andante con moto – so Strawinsky – wirklich nur „auf der Oberfläche der ‚persönlichen Gefühle’ des Komponisten dahin wie ein Luftkissenboot“? Kommt uns auch das Tanzen im Allegro assai entspannt und gelassen oder spannungslos und müde entgegen? In der Cavatina jedenfalls ist selbst vorsichtiger Frohsinn vorüber: „Beklemmt“ schrieb Beethoven über den Mittelteil. „Dass noch nie seine eigene Musik einen solchen Eindruck auf ihn hervorgebracht habe“, soll er gesagt haben, „und dass selbst das Zurückempfinden dieses Stückes ihm immer neue Tränen koste.“
Bei der Uraufführung im März 1826 löste das ursprüngliche „fugierte Finale“ Befremden aus – „unverständlich, wie Chinesisch“ sei es und eine „babylonische Verwirrung“, stellte ein Rezensent fest. Der Titel „Große Fuge“ ist etwas irreführend, denn keineswegs ist der gut fünfzehnminütige Satz ausschließlich dieser strengen kontrapunktischen Technik vorbehalten. Tatsächliche Fugen im engeren Sinn gibt es im ganzen Stück nur zwei (B-Dur und As-Dur) – diese dann freilich höchst kompliziert. Davor eine Ouvertura, die das spätere Fugenthema in gleich vier verschiedenen Varianten präsentiert; dazwischen ein freies, melodienseliges Fugato und eine tänzerische Episode nach Scherzo-Art; danach – im letzten Drittel – „Quasi-Reprisen“ und eine Coda mit nochmaliger Manifestation des Hauptthemas.
Dass die Fuge für den Verlag ein wirtschaftliches Risiko war, lässt sich nachvollziehen; dass sich Beethoven zur Komposition eines neuen Finales überreden ließ, scheint überhaupt nicht zu dem Bild des kämpferischen Trotzschädels zu passen. Aber er tat es. Die zweite Version mit einem auf der Oberfläche unproblematischer anmutenden Rondo an letzter Stelle wurde im April 1827 uraufgeführt. Einen Monat später erschien die „Grande Fugue“ separat mit der eigenen Opuszahl 133.
Mit seinen inzwischen zehn Streichquartetten ist Jörg Widmann einer der wenigen zeitgenössischen Komponisten, die diese Gattung so opulent bedienen. Hatte er schon die ersten fünf (1997-2005) als geschlossenen Zyklus konzipiert, nutze er für die nächsten fünf (2019/20) diese Verfahrensweise erneut und nannte sie „Beethoven-Studien“. Die Streichquartette Nr. 8 und Nr. 10 entstanden 2020 als Auftragswerke des Juilliard String Quartet, der Juilliard School of Music und der Arizona Friends of Chamber Music, unterstützt von Walter Swap, dem Green Music Center at Sonoma State University, dem Meany Center for the Performing Arts, der Chamber Music Society in Napa Valley und dem Royal Concertgebouw Amsterdam.
„Das 8. Streichquartett ist 3-sätzig und fast durchgehend in schnellem Tempo gehalten“, schreibt Widmann. „Der extrem knappe Kopfsatz changiert zwischen schroffen Unisono-Passagen und akkordischen Kaskaden. Der Mittelsatz ist ein Variationen-Satz. Das Thema sind die ersten 8 Takte des von mir innig verehrten Alla danza tedesca, diesem Rätsel-Tanzsatz aus Beethovens Streichquartett op. 130. Schon seit Jahren hatte ich keine expliziten Variationen mehr geschrieben. Das Beethoven-Thema selbst scheint mir schon durch eine Vielzahl von Umformungen gegangen zu sein, es wimmelt schon hier vor rhythmischen, melodischen und harmonischen Ausnahmen. Auf dieses permanente In-Frage-Stellen des Behaupteten stürze ich mich in meinen Variationen natürlich lustvoll.“ Der ausgedehnte Schlusssatz ist ein „Rondo-Presto, das sich in der eigenen atemlosen Spielfreude immer mehr verfängt und fast ad absurdum führt.“
Zum 10. Streichquartett heißt es: „Das Quartett der Quartette ist für mich Beethovens Streichquartett op. 130 mit der Großen Fuge. In jedem der Sätze erfindet Beethoven gleichsam die archetypischen Satzformen ganz neu (…) Meine Beethoven-Studien (…) umkreisen den Kosmos dieses so speziellen Quartetts mal unausgesprochen, mal deutlicher und in diesem den Zyklus abschließenden Quartett ganz explizit. Die Cavatina aus op. 130 ist einer der anrührendsten Sätze, die Beethoven je geschrieben hat. Obwohl manches Material daraus deutlich in meiner eigenen Cavatina auftaucht, scheint es mir doch der persönlichste und freieste Satz in meinem Quartett-Zyklus zu sein. Es ist ein freies Sich-Aussingen und Verströmen. (…) Alles schwebt. Ins Offene, ins Freie.“
Mit beispielloser Präzision und Energie begeistert das Juilliard String Quartet sein Publikum weltweit. In den über 75 Jahren seines Bestehens ist es dabei zu einer Institution und amerikanischen Legende geworden. Von Beginn an – und über seine gesamte weitere Karriere hinweg – zeichnete sich das Ensemble durch eine tiefe Auseinandersetzung mit dem Repertoire von der Klassik bis hin zur Moderne aus und hat zahlreiche Werke in Auftrag gegeben sowie uraufgeführt. Seit Mai 2022 ist Molly Carr die neue Bratschistin des renommierten New Yorker Quartetts und somit die Nachfolgerin ihres überraschend verstorbenen Mentors und langjährigen Ensemblemitglieds Roger Tapping.
Die letzten Saisons führten das Juilliard String Quartet unter anderem nach Hongkong, Singapur, Shanghai, Tokyo, London, Boston, Oslo, Kopenhagen, Athen, Amsterdam, Wien, Madrid, Vancouver, Toronto und quer durch die USA. Mit dem Basler Kammerorchester und dem Bilbao Symphony Orchestra begeisterte es das Publikum mit Martinůs Konzert für Streichquartett und Orchester. Das Quartett führte neue Werke der Komponisten Lembit Beecher, Jesse Jones sowie Richard Wernick auf und war im Januar 2020 bei der Biennale in Amsterdam sowie im Wiener Musikverein zu Gast. Nach Auftritten bei den Dresdner Musikfestspielen, in der Philharmonie Essen, dem Meran Festival, in Prag, Innsbruck, Stuttgart samt Höhepunkt der Saison 22/23, der Uraufführung beider im heutigen Konzert erklingenden Streichquartette Jörg Widmanns, ist das Juilliard String Quartet nun erneut auf Tournee in Deutschland (mit Auftritten unter anderem in Berlin, Bonn, Düsseldorf und der Elbphilharmonie Hamburg) sowie in Amsterdam.
Das Juilliard String Quartet kann über 100 Einspielungen vorweisen, erhielt den Grammy Award für seine Aufnahmen von Bartók, Schönberg, Debussy und Ravel sowie als erstes klassisches Musikensemble für sein Gesamtwerk und zudem den Preis der Deutschen Schallplattenkritik für sein Lebenswerk. Zuletzt erschienen Einspielungen von Mario Davidovskys „Fragments“ zusammen mit Beethovens op. 95 und Bartóks Streichquartett Nr. 1. Sony Classical veröffentlichte Werke von Carter, Beethoven, Bartók und Dvořák.
Alle Ensemblemitglieder sind Professoren der Streicher- und Kammermusik-Fakultäten an der Juilliard School in New York. Das Quartett veranstaltet jährlich im Mai das international renommierte Juilliard String Quartet Seminar, gibt Meisterkurse und offene Proben und arbeitet im Sommer mit Studierenden des Tanglewood Centers.