15.00 Uhr
Expeditionskonzert mit Joana Mallwitz
Lärm und Beleidigungen, Trillerpfeifen und Backpfeifen – das mondäne Publikum ließ die Pariser Uraufführung von „Le sacre du printemps“ Im Mai 1913 im Tumult enden, schrieb damit Theatergeschichte und zog natürlich weiteres Publikum in das so schockierende Ballett zur Musik Strawinskys. Auch Orchestermusiker beteiligten sich übrigens an den handgreiflichen Auseinandersetzungen.
Die Frau von Choreograph und Solo-Tänzer der Balletts Russes Nijinsky, Romola, erinnert sich gar an Folgen, die über den Konzertsaal hinausgingen: An eine „schön gekleidete Dame in einer Orchesterloge“, die sich erhob, um einem jungen Mann, der in einer Nachbarloge zischte, eine Ohrfeige verpasste. „Ihr Begleiter stand auf, Karten wurden ausgetauscht. Ein Duell folgte am nächsten Tag.“ Ob nun tatsächlich jemand wegen „Sacre“ sein Leben gelassen hat oder nicht – es ist auf jeden Fall eine gute Geschichte.
Aber einmal abgesehen von Hardcorefan-Kabale und Komponisten-Gefolgschaften: Worin bestand damal eigentlich das unmittelbare Erregungspotenzial von „Sacre“? Schließlich war bereits die konzertante Aufführung ein Jahr später ein voller Erfolg und sicherte „Sacre“ den Weg zum modernen Klassiker.
Zum einen erschütterte die Musik Hörgewohnheiten: Strawinsky nutze die raffiniertesten Mittel zur Erzeugung monoton-primitiver Klangformeln, schreibt unser Programmheftautor Harald Hodeige und zitiert seinen Kollegen Heinrich Strobel: „Der Rhythmus, oder besser: eine urtümliche rhythmische Gewalt zwingt die farbige Ausdruckskraft eines Riesenorchesters unter sich.“ Berühmt geworden sind vor allem zwei Stellen: das einleitende Fagott-Solo, das auf einer litauischen Volksmelodie basiert und ein simples Motiv wiederholt; und der Beginn des zweiten Teils mit seinen wuchtigen Akkordschlägen, die Keimzelle des gesamten Werks.
Zum anderen erregte manche, dass „Sacre“ die Opferung einer jungen Frau an einen archaischen Frühlingsgott auf die Bühne brachte. Da gehörte es nicht hin nach Meinung der Teile des Publikums, die von Kultur Erbauung erwarteten. Ebensowenig wie eine unansehnlich bekleidete, stampfende Compagnie. Kluge Köpfe wie der zeitgenössische Kritiker Jacques Rivière jedoch verstanden genau, worum es dem Komponisten hier ging: „Strawinsky sagt uns, dass er das Aufbranden des Frühlings schildern wollte. Aber dies ist nicht der übliche, von Dichtern besungene Frühling mit seinen linden Düften, seinem Vogelgezwitscher, seinem hellblauen Himmel und zarten Grün. Hier ist nichts als der erbarmungslose Kampf des Wachsens, das panische Entsetzen vor den aufsteigenden Säften, die beängstigende Umgruppierung der Zellen. Frühling von innen gesehen, mit all seiner Heftigkeit, seinen Spasmen und Rissen. Es ist, als beobachteten wir ein Drama unter einem Mikroskop.“