15.00 Uhr
Expeditionskonzert mit Joana Mallwitz
„Was haben wir bisher nicht alles verpasst,“ schrieb Musikkritiker Marc Blitzstein 1960 ebenso begeistert wie fassungslos, als er Aufnahmen der bis zu diesem Zeitpunkt unveröffentlichten Werke von Lili Boulanger entdeckte. Angesichts der Tatsache, dass im Konzertkanon Werke von Komponistinnen immer noch fast komplett unter den Tisch fallen, ist das auch über 60 Jahre später eine sehr berechtigte Frage.
Ein dreieinhalbstündiger Branchen-Workshop bot daher Konzertplaner*innen eine erste Austauschplattform: Wie lässt sich die Forschung renommierter Institutionen zum Schaffen komponierender Frauen stärker in die Praxis überführen, um einem allzu behäbigen Kanon nachhaltig aus den Fugen zu heben?
Wie sich das in der Praxis anhören kann, machte das ensemble reflektor unter Leitung von Katharina Wincor am selben Abend bereits vor: Atmosphärisch inszeniert musizierte das Kammerorchester Madrigale von Maddalena Casulana, eine Sinfonie von Louise Farrenc aus dem Jahr 1845 sowie Werke von Grace Williams (1944) und inti figgis-vizueta (2020/21).
Für die Moderatorin der Veranstaltung, Sängerin und Konzertplanerin Meredith Nicoll war es „Ein deutsches Requiem“ von Johannes Brahms – ihr Schlüsselwerk in die Welt der Musik. Weitere in den Saal gerufenen Antworten der 40 Teilnehmenden auf dieselbe Frage reichten von Schuberts „Winterreise“ bis Brittens „Sea Interludes“. Ein Musikstück einer Komponistin war nicht darunter.
Dabei haben komponierende Frauen im Laufe der Jahrhunderte (oft gegen große Widerstände) Werke geschaffen, die für die Musiksprache ihrer Zeit genauso stehen wie die ihrer männlichen Kollegen. Als verfblüffendes Beispiel dafür wurde eine kurze Passage aus einer Sinfonie der Romantikerin Emilie Mayer (1812-1883) eingespielt.
Der sich verfestigende bürgerliche Konzertkanon schloss sie und ihre Kolleginnen aus – bis heute, wie Zahlen eindrücklich belegen, die Jelena Rothermel vom Frankfurter Archiv Frau und Musik im ersten Impulsvortrag vorstellte. Ein Beispiel: In lediglich 1,9 % der Konzerte der Saison 2019/20 wurde auf deutschen Konzertbühnen mindestens ein Werk einer Komponistin gespielt. In zeitgenössischen Reihen war dies immerhin bei 13 % der Konzerte der Fall.
Einen knappen kulturhistorischen Abriss, wie es zu dieser ausschließenden Verfestigung des Kanons kommen konnte, steuerte ihre Kollegin Susanne Wosnitzka bei: Während komponierende Frauen in Klöstern des Mittelalters keine Seltenheit waren und ihre Werke aufgeführt wurden, änderten der Fokus auf die Artes Liberales und deren Lehren an den Frauen verschlossenen Universitäten in Renaissance und früher Neuzeit die Situation grundlegend. Das setzte sich ausgehenden 18. Jahrhundert im „Sturm und Drang“ fort, das den Mann als produzierendes Originalgenie proklamierte und der Frau maximal die Rolle künstlerischer Reproduktion blieb, ob auf den Konzertbühnen der sich formierenden bürgerlichen Öffentlichkeit oder im Rahmen häuslicher Erbauung.
Im letzten der Impulsvorträge durch das Archiv Frau und Musik richtete dessen Vorständin Mary Ellen Kitchens den Blick auf die Lebenssituation von Komponistinnen zeitgenössischer Musik und forderte auch in diesem Zusammenhang nachdrücklich zum Umdenken in der Konzertplanung auf. Ausreden gibt es keine mehr, denn Netzwerke und Institutionen, die Konzertplaner*innen bei der Findung entsprechender Werke unterstützen, sind inzwischen gut etabliert und nicht zuletzt in digitalen Datenbanken zugänglich. Wortmeldungen unterstützten ihre Erfahrung, dass man dem Publikum durchaus zutrauen darf, sich auch auf bisher unbekannte Werke aus Vergangenheit und Gegenwart einzulassen.
Das anschließende Podium versammelte unterschiedliche Perspektiven auf die Frage, an welchen Stellschrauben gedreht werden muss, um den Konzertkanon fluider gestalten lässt.
Geiger Joosten Ellée, der sich als Künstlerischer Leiter von Podium Esslingen mit Diversität, Partizipation, Politik und den Grenzen des Konzerts auseinandersetzt, berichtete aus seiner Praxis und appellierte, dass man an Konsequenzen des Handelns im künstlerischen Raum glauben müsse, um sie zu erreichen. Komponistin Sarah Nemtsov steuerte ihre Erfahrungen mit dem institutionalisierten zeitgenössischen Musikbetrieb und dessen stellenweise immer noch vorhandenen anachronistischen Vorstellungen von weiblichen und männlichen Komponierstilen und Musikgenres.
Sarah Wedl-Wilson, Kulturmanagerin und Rektorin der Hochschule für Musik Hanns Eisler, brachte das Stichwort „heighten awareness“ in die Runde ein und sieht Institutionen wie den Deutschen Musikrat und Ausbildungsstätten von der Musikschule bis zur Hochschule in der Pflicht, Musik von Frauen auf den Lehrplan zu nehmen.
Intendant Sebastian Nordmann beschrieb, wie das Konzerthaus Berlin als eine der großen Spielstätten den Konzertkanon umsichtig erweitern möchte, ohne vom Publikum hochgeschätzte und im Konzertsaal erwartete Werke von Männern deswegen einfach zu verbannen. Auch jenseits der Konzertplanung ist Female Empowerment am Konzerthaus auf der Agenda – mit Organistin in Residence Iveta Apkalna, jeder zweiten Saison einer weiblichen Artist in Residence wie aktuell Fatma Said, ab der kommenden Saison Joana Mallwitz als erster Chefdirigentin an einem Berliner Orchester. Ab Saison 24/25 wird auch die neu geschaffene Residency für Komponist*innen mit einer Frau besetzt.
Anschließend waren alle Teilnehmenden gefragt, sich in Gruppen zu drei Fragekomplexen auszutauschen: Wer oder was bestimmt musikalische Qualität, was sind Qualitäten der Zukunft? An welchen Schritten im Programmplanungsprozess lässt sich Diversität einbringen? Und: Was sind Vor- und Nachteile einer Genderquote?
Fest stand am Ende der lebhaften Diskussionen, dass unter den Konzertplaner*innen von heute und morgen als „Gatekeeper des modernen Repertoires“ der Wunsch nach Austausch und programmatischer Weiterentwicklung enorm groß ist. Weitere Möglichkeiten zum Austausch sollen sich anschließen.
Titelfoto: Felix Löchner