20.00 Uhr
Weihnachtskonzert des Georg-Friedrich-Händel-Gymnasiums
MUSIKFEST BERLIN
Konzerthausorchester Berlin
Michael Sanderling Dirigent
Programm
Luciano Berio (1925 – 2003)
„Eindrücke“ für Orchester
Gustav Mahler (1860 – 1911)
Sinfonie Nr. 6 a-Moll
Allegro energico, ma non troppo. Heftig, aber markig
Andante moderato
Scherzo. Wuchtig
Finale. Allegro moderato
Konzert ohne Pause
„Alles mit roher Kraft“ lautet die Vortragsbezeichnung einer Steigerungspassage im Finale von Mahlers Sechster Sinfonie. Dort allerdings, wo man als deren Ergebnis das Erreichen eines Höhepunktes erwartet, fällt ein Schlag ins Leere. Was folgt, ist ein tumultuös losbrechender Marsch mit wirbelnden Figuren und geschmetterten Fanfaren, vorangepeitscht von den Schlägen der Rute.
In Mahlers Sinfonien finden sich allenthalben Marschcharaktere – angefangen vom parodistischen „Todtenmarsch in Callot‘s Manier“ der Ersten Sinfonie über den Marsch, der in der endzeitlichen Vision des Finales der Zweiten die Toten zum „großen Appell“ versammelt, den pantheistischen Einmarsch des Sommers in der Dritten, den eröffnenden Trauermarsch der Fünften Sinfonie, die surreal verzauberten Märsche der Siebenten bis hin zum Kondukt gegen Ende des Kopfsatzes der Neunten Sinfonie.
Der Marsch aber ist auch jenes Element, das Mahlers Sechste mit Luciano Berios Orchesterwerk „Eindrücke“ verbindet, denn ein merkwürdig verfremdeter Marsch ist dort von Anfang bis Ende mehr oder minder präsent
Wie in einer surrealen Vision begegnen in Berios „Eindrücke“ musikalische Gestalten, die ihren Ursprung in Mahlers Sechster Sinfonie gehabt haben könnten und nun verwandelt und verfremdet wiederkehren: die Rhythmen eines Marsches und eine Melodie, die wie manisch eine Figur umschreibt, die dem einleitenden Motiv des Hauptthemas des Finales der Mahler-Sinfonie ähnelt. (Wobei hier nicht behauptet werden soll, dass Berio diese Ähnlichkeit bewusst intendiert hätte.) Der Marsch freilich ist kein zielgerichtet sich bewegender, sondern er stolpert und torkelt wie benommen und kommt eigentlich nicht vom Fleck. Das aber ist bezeichnend für die Grundidee des Stückes. Eine eigentlich statische, sich nur unmerklich veränderte Konstellation wird in der Zeit entfaltet: „Als Kommentar zu zwei früheren Orchesterwerken, ‚Bewegung‘ (1971) und ‚Still‘ (1972), konzipiert, entfaltet ‚Eindrücke‘ wie in einem Traum die ferne Erinnerung an einen Marsch und eine Melodie. Es ist ein Ostinato aus zwei fragmentierten Diskursen, die einander gleichgültig gegenüberstehen und fast unbeweglich sind, sich sehr langsam verwandeln, sich verfolgen und kreuzen, ohne sich jemals zu begegnen...“ (Luciano Berio)
Ein wenig rätselhaft mutet der Titel „Eindrücke“ an. Berio hat nur sehr selten deutsche Titel für seine Werke verwendet. Warum gerade hier? Wohl kaum dürfte das eine Reverenz an die deutschsprachigen Auftraggeber gewesen sein, denn in der mehrsprachigen Schweiz hätte man das italienische „Impressioni“ ohne Weiteres verstanden. Dieses Wort hätte freilich eine andere Konnotation gehabt als der deutsche Titel „Eindrücke“ und vielleicht zu sehr an den Farbenrausch des Impressionismus gemahnt, um den es hier nicht geht. Das Wort Eindrücke hingegen kann auch etwas meinen, das sich tief eingegraben hat – wie das Erinnerungen sein können, die perennierend wiederkehren und selbst unsere (Alb)-Träume insistierend bevölkern.
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Märsche entstammen der vom Reich der „hohen“ Kunst eigentlich streng geschiedenen Sphäre der Gebrauchsmusik und haben den Zweck, die unabhängigen Bewegungen der Einzelnen zum einheitlichen, zielgerichteten Gleichschritt einer Masse zu bündeln, die Individuen also gleichsam in der Uniformität verschwinden zu lassen. Eingebunden sind sie in die Prozeduren der Machtausübung (als Repräsentationsmusik), der Zeremonien (etwa als Trauermarsch) und des Krieges. Die Marschintonationen sind bei Mahler nicht gereinigt von den Spuren ihrer Herkunft. So werden sie zu „mitsprechendem Material, das immer dort erscheint, wo die Hochsprache des Sinfonischen aus dem Innersten ihrer selbst heraus in Panik versetzt wird und ihrer selbst nicht mehr mächtig ist angesichts eines Schreckens, von dem in souveräner Rede nicht mehr zu sprechen wäre.“ (Hans Wollschläger)
Die Märsche in Mahlers Musik sind häufig aus der Perspektive derer zu vernehmen, die von ihnen verschleppt werden. In den soldatischen „Wunderhorn“-Liedern sind diese – zumeist todgeweihten – Opfer personifiziert: der Soldat „zu Straßburg auf der Schanz“, der zum Galgen geführte „Tamboursg‘sell“, der tödlich Verwundete in der „Revelge“, der in nächtlicher Einsamkeit Verlorene in „Der Schildwache Nachtlied“.
Zwar prägen vergleichbare Marschintonationen, wie sie in den Liedern (insbesondere in der „Revelge“) anklingen, weite Teile der beiden Außensätze der Sechsten Sinfonie, und noch die zertrümmerten Tänze des Scherzos sind infiziert vom Gestus des brutal Stampfenden. Freilich ist in der Sinfonie die Stimme des Einzelnen aufgehoben in der objektivierenden Klangrede des Orchesters. Hier erfasst die destruktive Gewalt des Marsches die Strukturen der Musik selbst. Ihr widerfährt Gewalt, und die Hörenden, die sie umfängt, werden zu leibhaftigen Zeugen ihres Untergangs, in dem gleichwohl eine kollektive Bewegung widerhallt. Darauf spielte Hans Ferdinand Redlich an, der in der Sechsten „die Schrecknisse dieses von zwei Weltkriegen zerpflügten Jahrhunderts und das Elend jener Minderheiten (im weitesten Sinne dieses Ausdrucks)“ antizipiert sah, „denen in dem altösterreichischen Juden Mahler der verständnisvollste Dolmetsch erwuchs.“
Klangliche Chiffre der Katastrophe ist der abrupte Wechsel von Dur nach Moll, gepaart mit einem prägnanten Marschrhythmus der Pauken. Diese Gestalt wird demonstrativ herausgestellt im ersten Teil des Kopfsatzes, nachdem das erste Thema erklungen ist. Wie ein Siegel durchzieht der Dur-Moll-Wechsel die Sätze der Sinfonie und markiert schließlich – nunmehr reduziert auf den Molldreiklang – deren Ende.
Mahler war ein Komponist, der durch die Tradition sanktionierte Modelle des Komponierens nie unreflektiert übernahm. Oft genug fand er zu fern aller Konventionen liegenden Lösungen. Darum könnte es zunächst verwundern, dass der Kopfsatz der Sechsten als ein ganz regelgerechter Sonatensatz geformt ist mit tongetreu wiederholter Themenexposition am Beginn, zentralem Durchführungsabschnitt, verkürzter Reprise und Coda. Freilich wird dadurch, dass die Konturen des Sonatensatzes hier so deutlich erkennbar sind, umso stärker erfahrbar, wie deren Elemente überformt werden von der usurpatorischen Gewalt des Marsches. Dessen Puls bringt den Satz in Gang, beherrscht das erste Thema und sekundiert dem zwischen Haupt- und Seitensatz interpolierten Choral. Auch das ganz auf Kontrast hin angelegte, emphatisch aufrauschende zweite Thema wird nach wenigen Takten dem Diktat der Marschrhythmen unterworfen. Nicht aus der dialektischen Spannung der Sonate gewinnt die sinfonische Entwicklung ihre Dynamik, sondern die Gestalten werden – drastisch formuliert – an die Kandare genommen von der übergeordneten Kraft des Marsches.
Deren Zugriff kann die Musik im ersten Satz nur durch einen Akt irrealer Entrückung entkommen: Urplötzlich setzt mitten in der Durchführung die bis dahin ungebrochene Marschbewegung aus und ändert sich das Klangbild drastisch. Über einem Klangteppich aus Orgelpunkten, Streichertremoli, Celesta-Akkorden und von fern erklingenden Herdenglocken begegnen wie in einer Traumvision in zartester Klanglichkeit Varianten der Themen und wähnen wir uns in einem Reich der Entronnenen. Eben in jenem Moment, in dem aus der Verheißung Wirklichkeit zu werden scheint, bricht der Marsch als steuernde Instanz des Satzes erneut hervor, als ob er durch die Traum-Episode nicht unterbrochen, sondern „nur in den Hintergrund gerückt wäre und dort sein stummes Schattenspiel getrieben hätte.“ (Mathias Hansen)
Als ließe das „Vorwärts!“ des Marsches kaum Raum für das rekapitulierende Wesen der Reprise, werden deren Maße wie von Schockwellen getroffen komprimiert und bleibt selbst dem jubelnden Schluss etwas Überhastetes, Überstürztes eingeschrieben.
So wie die entrückte Episode im Zentrum des ersten Satzes nimmt sich das Andante im Sinfonieganzen aus, eine Enklave sowohl tonartlich (mit dem vom in den drei anderen Sätzen dominierenden a-Moll weit entfernten Es-Dur) als auch in dem wiegenden, ruhig fließenden Duktus der beiden alternierenden Themen und dem dynamisch zurückgenommenen, abgedunkelten Orchesterklang, der solistischen Farben Raum gibt. Freilich bleiben die Spuren jenes Verhängnisses, dem die Musik entgegentreibt, der musikalischen Textur eingeschrieben. Der charakteristische Dur-Moll-Wechsel – im ersten Satz demonstrativ ausgestelltes Emblem – färbt nunmehr untergründig die Melodien, die seltsam unentschieden zwischen den Tongeschlechtern changieren. Wenn in der Mitte des Satzes der instrumentale Gesang des Beginns wie eine Liedstrophe wiederkehrt, wird ihm eine schwebende Gegenmelodie überlagert und „hebt“ die Musik gleichsam „ab“ in einer überaus zarten, „Misterioso“ überschriebenen Episode. Deren choralartige Harmoniefolgen erinnern an jene Passagen in Mahlers früheren Sinfonien, in denen machtvolle Apotheosen Rettung verhießen. Hier aber ist der Klang gleichsam entmaterialisiert wie die Vision von etwas unerreichbar Fernem, die schließlich „wie ein Hauch“ und „ersterbend“ (so die Vortragsbezeichnungen) in einem Flageolettklang der Violinen zergeht. Ihr antwortet eine heftig ausbrechende Passage, die nach großer dynamischer Anspannung gleich einer brandenden Welle in Ermüdung und Auflösung mündet.
Das Scherzo ist dem ersten Satz motivisch, tonartlich und auch im Gestus engstens verwandt. Hans Wollschläger hat das Wesen dieser Musik kongenial in Worte gefasst: „Der marschierende Grundrhythmus packt die Tanzfiguren und unterwirft sie; die Schwere ihres Untertextes hängt ihnen wie bleiernes Gewicht an den Füßen. Der Satz wirkt vom ersten Moment an wie der Versuch, etwas zum Tanzen zu bringen, was keinem Tanz mehr gefügig ist; nur eine hauchdünne Schicht trennt das Verhängnis noch von seiner verhüllenden Erscheinung. Im letzten Hauptteil bricht es schließlich tobend herauf und durch, hörbar nicht selbst, sondern nur in dem unbeschreiblichen Wehelaut, mit dem die Form darunter zusammenstürzt. Was übrig bleibt, sind nurmehr die Trümmer der thematischen Gestalten, die wie desorientiert ins Bodenlose torkeln: eine im kompositorischen Verfahren beispiellos verdichtete Essenz von Mahlers Botschaft überhaupt.
Die ersten drei Sätze haben gemein, dass die Spannungen, die jeweils kurz vor ihrem Ende aufgebaut werden, nicht wirklich aufgelöst werden und ihre Schlüsse deshalb wie vorläufig scheinen. Auf diese Weise wird die Aufmerksamkeit auf das Finale fokussiert, den Zielpunkt der sinfonischen Entwicklung. Seine Dimensionen sind gewaltig, es beansprucht mehr als ein Drittel der Zeitdauer der gesamten Sinfonie. Einerseits ist das Finale durch eine Vielzahl motivischer Bezüge mit den vorausgehenden Sätzen (insbesondere mit dem Kopfsatz und dem Scherzo) verbunden, andererseits vermittelt es den Eindruck eines überaus geschlossenen musikalischen Gebildes.
Der Satz ist als Steigerung und Negation dessen angelegt, was sich vor ihm zutrug. Ein weit ausgreifendes eröffnendes Thema hebt gleichsam den Vorhang über einer noch im Dunkeln liegenden Szenerie und mündet in den massiv dreinfahrenden Dur-Moll-Wechsel. Signalmotive, Marschfragmente, ein düsterer Choral, kreischend auffahrende Melodiefetzen blitzen auf, so wie Wetterleuchten die Nacht erhellen mag. Allmählich verdichtet sich das Geschehen und bereitet in nach und nach gesteigertem Tempo die eigentliche Exposition vor. Wie im Kopfsatz ist deren erster Themenkomplex ein energischer Marsch, dessen Motivik auch dem folgenden, aus dem „schwarzen“ Choral des eröffnenden Abschnitts gewonnenen überleitenden Thema kontrapunktiert. Den folgenden Seitensatz charakterisierte Theodor W. Adorno als „wohl das romanähnlichste Gebilde von Mahler überhaupt, wie ein gefährdetes Boot tanzend auf unregelmäßigen Wellen. Ohne im Nachsatz seiner simplen Sequenzen sich zu schämen, ist dies asymmetrische, von durchlaufender Bewegung gereinigte Thema unergründlich durch seinen Ausdruck. Er changiert zwischen leichtsinnigem Glück und hochbrandendem Rausch.“
Der gesamte Satz bewegt sich zwischen der amorphen Klangwelt des Beginns und den fester gefügten Strukturen, wie sie in der Exposition erstmals begegneten. Deren thematische Substanz wird in den folgenden Durchführungspartien gleichsam aufgerieben. Jenes Prinzip, das die Musik am Beginn in Gang setzte, treibt sie nun in den Untergang: Immer dann, wenn aus dem emphatischen Nachsatz des Seitensatzes Partien gewonnen werden, die sich vom Diktat des Marsches emanzipieren und in gewaltigen Aufschwüngen Apotheosen zuzustreben scheinen, münden sie im Zusammenbruch. Zweimal werden solche Momente in der Durchführung durch Hammerschläge markiert („Kurzer, mächtig aber dumpf hallender Schlag von nicht metallischem Charakter. Wie ein Axthieb.“ – so die Partituranweisung). Theodor W. Adorno: „Vergeblich wäre es, trotz der Hammerschläge, in diesem Finale auf den zu lauern, der da angeblich vom Schicksal gefällt wird. Die Hingabe der Musik an ihren eigenen ungezügelten Affekt ist ihre Bahn zum Tod, ungeminderte Rache des Weltlaufs an der Utopie. Offen verzweifelte Partien treten zurück hinter solchen des dumpf Brütenden, des Überschäumens, des Heranbrausenden. [...] Die Katastrophen koinzidieren mit den Höhepunkten. Manchmal klingt es, als ob im Augenblicke des endlichen Feuers die Menschheit noch einmal aufglühte, die Toten noch einmal lebendig würden. Glück flammt hoch am Rande des Grauens.“
Mit dem Einsatz der Coda – „dem Hoffnungslosesten, was je komponiert ward“ (Eberhardt Klemm) – sinkt die Musik zurück in jenes Dunkel, aus dem sie anhob und markiert der an den Marschrhythmus gekoppelte Molldreiklang ein absolutes Ende.
Kurz vor der Uraufführung war bei C. F. Kahnt in Leipzig eine Druckausgabe der Sinfonie erschienen, sowohl als Dirigier- als auch als Studienpartitur. Freilich unterschied sich die in Essen aufgeführte Version der Sinfonie von der gedruckten Partitur, denn Mahler hatte während einer Leseprobe mit seinem Wiener Orchester und während der Proben zur Uraufführung die Instrumentation retuschiert und als einschneidende Änderung die ursprüngliche Reihenfolge der beiden inneren Sätze getauscht, das Andante also vor das Scherzo gesetzt. Diese letztgenannte Änderung ist in einer ebenfalls noch 1906 erschienenen Neuausgabe der Studienpartitur berücksichtigt. Damit aber nicht genug: Ebenfalls noch 1906 erschien auch eine Neuausgabe der Dirigierpartitur. Die Reihenfolge Andante – Scherzo ist beibehalten, nun aber ein dritter Hammerschlag, der am Beginn der Coda erfolgen sollte, gestrichen. (In früheren Entwürfen hatte Mahler insgesamt an fünf Stellen Hammerschläge vorgesehen.)
Die Instrumentation ist in dieser Fassung in vielen Details überarbeitet und zielt auf eine größere Durchsichtigkeit und Deutlichkeit des Klangbildes. Des Weiteren existiert ein Bürstenabzug der Erstausgabe der Dirigierpartitur, in den Mahler eine Vielzahl von instrumentalen Retuschen eingetragen hat und der möglicherweise als Vorlage für die revidierte Dirigierpartitur gedient hat. Allerdings sind nicht alle Retuschen in die neue Druckausgabe eingegangen. Auf diesem Bürstenabzug findet sich auch ein Hinweis darauf, dass die Reihenfolge der Binnensätze nun doch wieder der ursprünglichen Fassung entsprechen soll: erst das Scherzo, dann das Andante. Freilich hat Mahler bei den von ihm dirigierten Folgeaufführungen am 8. November 1906 in München und am 4. Januar 1907 in Wien an der Reihenfolge Andante – Scherzo festgehalten. Willem Mengelberg – einer der wichtigen Mahler-Interpreten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und mit Mahler eng befreundet – dirigierte die Sechste 1916 gleichfalls in dieser Version. Dass aber schon damals Unsicherheiten betreffend der Reihenfolge der Binnensätze bestanden, geht daraus hervor, dass Mengelberg über diese Thematik im Vorfeld von für 1919 und 1920 geplanten Aufführungen mit Alma Mahler kommunizierte. Ihre telegrafische Antwort lautete: „Erst scherzo, dann andante – herzlichst alma mahler“. In Mengelbergs Partitur wird daraus der Eintrag: „Nach Mahlers Angabe II erst Scherzo dann III Andante“. Auf Mengelberg berief sich wiederum Erwin Ratz, der 1963 die Partitur für die Mahler-Gesamtausgabe neu herausgab. In den letzten Jahren sind die Diskussionen um die „richtige“ Reihenfolge erneut und nunmehr mit polemischer Schärfe aufgeflammt. Ganz gleich, welcher Fassung man zuneigt, wird man konzedieren müssen, dass Mahler selbst über die Reihenfolge der Sätze unsicher war. Positiv formuliert: Beide Varianten sind möglich.
Mahler mit Willem Mengelberg links und Alphons Diepenbrock rechts, 1906
Die Uraufführung der Sechsten erzielte „einen großen äußeren Erfolg und unzählige Hervorrufe Mahlers, begleitet von Orchesterfanfaren.“ (Heinrich Hammer in „Neue Musikalische Presse“ vom 30. Juni 1906) Andere Pressestimmen beurteilten das Werk deutlich skeptischer.
Mahler selbst hat die Sechste Sinfonie nur selten dirigiert, und auch später stand das Werk lange im Schatten seiner anderen Sinfonien, selbst dann noch, als in den 60er Jahren die Mahler-Renaissance einsetzte. So konstatierte Eberhardt Klemm 1966, dass die Sechste Sinfonie zu den „großen unbekannten Werken der neueren Musik“ zähle. Welche Schwierigkeiten das Werk der Rezeption und sicher auch der Reproduktion bereitete, wird auch dadurch dokumentiert, dass ein mit Mahlers Musik so vertrauter Dirigent wie Hermann Scherchen die Sechste dem Leipziger Publikum 1960 nur in einer arg amputierten Version zuzumuten bereit war.
Im Gegensatz zu der zögerlichen Rezeption im Konzertsaal hat die Sechste nachfolgende Komponistengenerationen so unmittelbar beeinflusst wie kein anderes Werk Mahlers. Alexander Zemlinsky bearbeitete die Sinfonie für Klavier zu vier Händen, eine Fassung, die – sicher für Studienzwecke gedacht – mittlerweile den Weg in die Konzertsäle gefunden hat. Für Anton Webern, der sich auch als Dirigent für die Sinfonie einsetzte, war sie „die einzige Sechste, außer der Pastorale“. Der befreundete Alban Berg replizierte: „es gibt doch nur eine VIte, trotz der Pastorale“ und knüpfte mit seinen Drei Orchesterstücken op. 6 (1914) direkt an Mahlers Sinfonie an. Auch manche Passagen der Vierten Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch (1936) sind ohne das Vorbild der Sechsten Mahlers nicht denkbar.
Das Konzerthausorchester Berlin spielt seit der Saison 2023/24 unter Leitung von Chefdirigentin Joana Mallwitz. Sie folgt damit Christoph Eschenbach, der diese Position ab 2019 vier Spielzeiten innehatte. Als Ehrendirigent ist Iván Fischer, Chefdirigent von 2012 bis 2018, dem Orchester weiterhin sehr verbunden.
1952 als Berliner Sinfonie-Orchester (BSO) gegründet, erfuhr das heutige Konzerthausorchester Berlin von 1960 bis 1977 unter Chefdirigent Kurt Sanderling seine entscheidende Profilierung und internationale Anerkennung. Seine eigene Spielstätte erhielt es 1984 mit Wiedereröffnung des restaurierten Schauspielhauses am Gendarmenmarkt. Zehn Jahre später wurde das BSO offizielles Hausorchester am nun umgetauften Konzerthaus Berlin und trägt seit 2006 dazu passend seinen heutigen Namen. Dort spielt es pro Saison mehr als 100 Konzerte. Außerdem ist es regelmäßig auf Tourneen und Festivals im In- und Ausland zu erleben. An der 2010 gegründeten Kurt-Sanderling-Akademie bilden die Musiker*innen hochbegabten Orchesternachwuchs aus.
Einem breiten Publikum auf höchstem Niveau gespielte Musik nah zu bringen, ist dem Konzerthausorchester wesentliches Anliegen. Dafür engagieren sich die Musiker*innen etwa bei „Mittendrin“, wobei das Publikum im Konzert direkt neben Orchestermitgliedern sitzt, als Mitwirkende in Clipserien im Web wie dem mehrfach preisgekrönten #klangberlins oder in den Streams „Spielzeit“ auf der Webplattform „twitch“. Die Verbundenheit mit Berlin zeigt sich im vielfältigen pädagogischen und sozialen Engagement des Orchesters mit diversen Partnern in der Stadt.
Seit 2021 ist Michael Sanderling Chefdirigent des Luzerner Sinfonieorchesters. Unter seiner Leitung hat das Orchester Gastspielreisen nach Asien, Südamerika und Deutschland unternommen. Besondere Aufmerksamkeit erlangte die Aufführung der 10. Sinfonie von Schostakowitsch im Konzerthaus Wien, begleitet von William Kentridges Animationsfilm „Oh to Believe in Another World“. Die Uraufführung dieses Werks fand zuvor im KKL Luzern und beim Festival Pompeji Theatrum Mundi statt.
Seit dem Beginn seiner Tätigkeit als Chefdirigent wurden mehrere vielbeachtete CD-Produktionen realisiert, darunter der 2023 bei Warner Classics erschienene Brahms-Zyklus mit den vier Sinfonien und seiner „Fünften“, dem von Arnold Schönberg orchestrierten Klavierquartett, sowie eine Aufnahme der Klavierkonzerte von Schumann und Grieg mit Elisabeth Leonskaja.
Als Gastdirigent leitet Michael Sanderling namhafte Orchester weltweit, darunter die Berliner Philharmoniker, das Gewandhausorchester Leipzig, das Indianapolis Symphony Orchestra, das Hong Kong Philharmonic Orchestra, das Royal Concertgebouw Orchestra, das Orchestre de Paris, das Philharmonia Orchestra London, das NHK Symphony Orchestra, das Tonhalle-Orchester Zürich, die Wiener Symphoniker, das Toronto Symphony Orchestra, das Helsinki Philharmonic Orchestra sowie das BBC Scottish Symphony Orchestra.
Von 2011 bis 2019 prägte Michael Sanderling als Chefdirigent die Dresdner Philharmonie und profilierte das Orchester zu einem der führenden Klangkörper Deutschlands. Gemeinsame Konzertformate in Dresden und zahlreiche internationale Tourneen wurden durch die Einspielungen sämtlicher Sinfonien von Beethoven und Schostakowitsch für Sony Classical dokumentiert. Vorausgegangen war von 2006 bis 2011 die künstlerische Leitung der Kammerakademie Potsdam als Chefdirigent.
Michael Sanderlings umfangreiche Diskographie umfasst neben den oben genannten auch Aufnahmen von Kompositionen für Violoncello und Orchester von Bloch, Korngold, Bruch und Ravel mit Edgar Moreau und dem Luzerner Sinfonieorchester.
Im Jahr 2011 leitete er die Neuproduktion von Sergej Prokofjews „Krieg und Frieden“ an der Oper Köln, für die er von der Zeitschrift „Opernwelt“ zum Dirigenten des Jahres gewählt wurde.
Michael Sanderling engagiert sich leidenschaftlich für die Förderung der musikalischen Jugend. Neben seiner Lehrtätigkeit an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main arbeitet er regelmäßig mit dem Schleswig-Holstein Festival Orchester zusammen. Von 2003 bis 2013 war er Chefdirigent des Jugendorchesters Deutsche Streicherphilharmonie.
Fragen an unseren neuen Intendanten
Du kommst aus Hamburg nach Berlin. Welche Rolle spielt die neue Stadt in deinem Leben?
Um die Jahrtausendwende habe ich als freischaffender Musiker mit meiner Familie bereits einige Jahre in Berlin gelebt und an zahlreichen Orten gespielt, unter anderem auch im Konzerthaus. Als Metropole voller Geschichte, voller Brüche und voller Menschen unterschiedlichster Hintergründe erzählt Berlin viel darüber, wo wir herkommen, wohin es gehen könnte oder auch, wo wir mit Widerständen umgehen müssen. Ihre internationale Vielfalt und ihr kreativer Puls haben mich an dieser Stadt schon immer fasziniert.