20.00 Uhr
Erinys Quartet
Konzerthausorchester Berlin
Iván Fischer Dirigent
Guy Braunstein Violine
Programm
Béla Bartók (1881-1945)
„Ungarische Bauernlieder“ für Orchester Sz. 100, BB 107
Antonín Dvořák (1841-1904) „Rusalka Rhapsody“, für Violine und Orchester zusammengestellt und bearbeitet von Guy Braunstein (2018)
PAUSE
Antonín Dvořák
Notturno für Streichorchester H-Dur op. 40
Béla Bartók
Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta Sz 106 (1936)
Andante tranquillo
Allegro
Adagio
Allegro molto
"If I were to cross myself, I would say 'In the name of nature, art and science...' ". What Béla Bartók defines here in purely theoretical terms as his musical trinity is reflected quite practically in his music and can also serve as a motto for today's entire program: Nature as the epitome of the primal is embodied in the works of both Bartók and Antonín Dvorák by folk songs and folk elements and, in the case of the Rusalka Rhapsody, by all manner of forest elves, mermaids and mermen. Art and science, on the other hand, in the sense of inventiveness, craftsmanship and profound knowledge, are in any case omnipresent in the music heard today - not least in the stylistic unmistakability of both composers, who in very different ways founded a nationally typical music of the Czech Republic and Hungary.
The idea of unity prevalent in the Christian trinity of Father, Son and Holy Spirit is no less true in the musical correspondence of nature, art and science: especially at the end of the program, in Bartók's "Music for String Instruments", the idea of unity in diversity is taken to extremes: Naïve peasant music, "simple to the point of primitiveness, but never simple-minded", according to Bartók, here goes hand in hand with the most modern twelve-tone and baroque fugue techniques as a matter of course, combining to create masterful perfection. So even if the Trinity is not the "holy" one in this program, reverent and uplifting feelings among the audience cannot be ruled out.
Béla Bartók: „Ungarische Bauernlieder“ für Orchester Sz. 100, BB 107
Wenn von Wissenschaft im Zusammenhang mit Béla Bartók die Rede ist, dann bedarf ein Aspekt seines Schaffens ganz besonderer Erwähnung: seine lebenslange, systematische Arbeit als Ethnologe. Mehr als 10.000 Volkslieder verschiedenster Länder Südosteuropas und Nordafrikas, die er im Laufe der Zeit mit damals neuesten technischen Mitteln wie Phonographen aufzeichnete und katalogisierte, bezeugen die Bedeutung, die er dieser Musik beimaß. „Es waren die glücklichsten Tage meines Lebens, die ich in Dörfern, unter Bauern verbracht habe“, erinnert sich der ungarische Komponist an seine Forschungsexpeditionen, die aus einem damals verbreiteten nationalromantischen Antrieb heraus begannen. Mehr noch als etwa bei Chopin, Smetana oder auch Dvorák, die ebenfalls Kinder der Nationalromantik sind, nimmt Bartóks Umgang mit der Volksmusik nicht nur in seiner Systematik, sondern auch in seiner stilprägenden Funktion umfassende Ausmaße an: So entwickelt er zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Grenzen der Dur-Moll-Tonalität ausgereizt schienen und die Komponisten zu immer neuen Ansätzen herausgefordert waren, eine Klangsprache, die grundlegend auf der von ihm so bewunderten „Bauernmusik“ beruht: „Das Studium all dieser Bauernmusik war deshalb von entscheidender Bedeutung für mich, weil sie mich auf die Möglichkeit einer vollständigen Emanzipation von der Alleinherrschaft des bisherigen Dur- und Moll-Systems brachte.“
Durch Industrialisierung und sich ausdehnenden Großgrundbesitz sah Bartók das bäuerliche Kulturgut in seiner Existenz gefährdet – umso mehr galt es ihm, es zu bewahren. Die „Ungarischen Bauernlieder“ Sz. 100 legen davon Zeugnis ab. Bartók greift dafür 1933 auf seine fast zwanzig Jahre zuvor entstandenen Klavierstücke „Fünfzehn ungarische Bauernlieder“ Sz. 71 zurück, die er nun in etwas gekürzter Form für Orchester setzt. Im Vorwort der ersten Fassung aus dem Jahr 1914 schreibt er über den musikalischen Ausgangspunkt: „Um Missverständnissen vorzubeugen, müssen wir hier mit besonderem Nachdruck hervorheben, dass die hier veröffentlichten Melodien Volkslieder im engsten Sinne des Wortes, besser gesagt Bauernlieder sind. Diese Lieder werden also von der Herren- und Bürgerklasse nicht gesungen, sind sogar derselben meistenteils unbekannt.“
Belegt ist, dass er bereits 1910 die erste und letzte Melodie der „Ungarischen Bauernlieder“ bei einem musikalischen Wettstreit im Norden Ungarns hörte und mit einem Phonographen festhielt. Der nachhaltige Eindruck, den vor allem die Dudelsackspieler auf ihn gemacht hatten, spiegelt sich etwa im Schlussstück wieder: Es basiert auf der für das Blasinstrument typischen gleichbleibenden Orgelpunktharmonik, während die Holzbläser darüber virtuos dessen charakteristische Klangfarbe und Melodieführung imitieren. Neben den Melodien sind ebenfalls die originalen Texte der einzelnen Lieder überliefert. Unbestreitbarer thematischer Schwerpunkt darin: der Alltag auf dem Land und – Überraschung – die Liebe: „Hab den Zwetschgenbaum erstiegen/ Hab die Hose mir zerrissen/ Himmelherrgottdonnerwetter/ Wird mein Schatz schon wieder flicken.“
Antonín Dvořák: „Rusalka Rhapsody“
(Scheinbar) weniger alltäglich geht es in Dvoráks 1900 entstandener Erfolgsoper „Rusalka“ zu: Die Nixe Rusalka lässt sich aus Sehnsucht nach menschlicher Liebe verhexen und erhält dadurch zwar Beine, verliert allerdings ihre Stimme. Die nun tatsächlich beginnende Liebesbeziehung zu einem (allzu) menschlichen Prinzen verläuft dann jedoch recht ernüchternd – er betrügt sie, woraufhin sie verzweifelt in die Wasserwelt zurückkehrt, wo ihr allerdings auch kein Glück mehr beschert ist. Die Oper endet damit, dass Rusalka dem Prinzen, der sie immer noch unsterblich liebt, mit einem tödlichen Kuss das Leben aushaucht.
Guy Braunstein beschränkt sich in seiner „Rusalka-Rhapsody“ auf die ersten 22 Minuten der Oper, in denen das böse Ende noch weit entfernt und keineswegs alternativlos scheint. Drei Waldelfen tanzen und umspielen den Wassermann zu schwungvoller Musik in tschechisch volkstümlichem Kolorit. Mit dem berühmten Mondlied der Protagonistin endet die Rhapsodie, also bevor die Handlung erstmals in die Menschenwelt wechselt. Statt Lieder erklingen in dieser Welt Arien – eine Zuordnung, die den Vergleich mit dem 40 Jahre jüngeren Béla Bartók beinah aufdrängt, sprach jener Volksliedern doch stets eine „unbewusst wirkende Naturkraft“ zu, die frei von „jeder Gelehrsamkeit“ sei…
Die Gesangspartien, sei es Rusalkas Sopran oder der Bass des Wassermanns, sind in der Rhapsodie natürlich über weite Strecken der Solovioline überantwortet. Allerdings beschränkt sich Braunstein in seinem Violinpart nicht nur darauf: er umspielt und ziert aus, fügt virtuose Kadenzen ein, übernimmt zwischenzeitlich die Klangkaskaden der eigentlichen Harfenstimme – kurz: er lässt ein mustergültiges, romantisches Violinkonzert entstehen. „Dvořák ist einer meiner Lieblingskomponisten“, begründet der Geiger seine Motivation 2017 in einem Interview. „Aber er hat nur ein Violinkonzert geschrieben. Und ich komponiere mir jetzt aus der ‚Rusalka‘ […] ein zweites Violinkonzert.“
Antonín Dvořák: „Notturno” für Streichorchester H-Dur op. 40
Ganz unfolkloristisch gibt sich Dvořaks 1883 veröffentlichtes „Notturno“ für Streichorchester. Ob der Titel Aufschluss über die Musik gibt, muss wohl jeder und jede selbst entscheiden, komponierte Dvořák das lyrische Stück doch ursprünglich als Teil eines Streichquartetts mit der schlichten Satzbezeichnung Andante religioso. Tatsächlich liegen Assoziationen zu Schlummer- oder Wiegenmusiken durch die triolischen Wellenbewegungen der Mittelstimmen aber durchaus nah. Auch der über die ersten 3 1/2 Minuten beibehaltene Orgelpunkt in den Bassstimmen auf dem Ton fis trägt zu der besänftigend meditativen Wirkung des kleinen Charakterstückes bei. Sowohl was die Instrumentation als auch was die Atmosphäre anbelangt, bildet diese zutiefst romantische Musik eine überraschend stimmige Hinführung zu Bartóks „Musik für Saiteninstrumente“.
Béla Bartók: „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“ Sz 106
„Wohl noch niemals hat ein modernes Orchesterwerk einen so allgemeinen Erfolg und eine so schnelle Verbreitung gefunden, wie dieses neue Werk von Béla Bartók“, liest man in einem Werbeprospekt der Universal Edition, wo Béla Bartók seit 1918 unter Vertrag stand. „Beendet im September 1936, wurde die ,Musik für Saiteninstrumente’ durch das Basler Kammerorchester (Paul Sacher) am 21. Januar 1937 zur Uraufführung gebracht und erlebte schon im ersten Jahr nahezu fünfzig Aufführungen.“ Umso erstaunlicher ist dieser Erfolg in Anbetracht der nur wenige Wochen umfassenden Entstehungszeit sowie der einschränkenden Vorgaben des Auftraggebers Paul Sacher. Weder zu schwer noch zu lang solle das neue Stück sein und neben der Streichorchesterbesetzung möglichst nicht allzu viele Zusatzinstrumente beanspruchen, so die Vorstellung des Basler Dirigenten und Mäzens, der das Werk für die zehnjährige Jubiläumsfeier seines Orchesters vorgesehen hatte. Oftmals sind es ja genau solche Beschränkungen und Widerstände, an denen sich Künstler produktiv „abarbeiten“ und die am Ende umso größere Meisterwerke entstehen lassen – im Fall der „Musik für Saiteninstrumente“ scheint genau dies auf verschiedensten Ebenen passiert zu sein. Bartók gelingt darin eine Synthese verschiedenster Epochen, Genres und Stile, die das Stück zu einem regelrechten Kompendium der Musikgeschichte bis 1936 lassen werden.
Die Viersätzigkeit erinnert stark an eine Sinfonie, dennoch entscheidet sich der sonst so auf Präzision pochende Komponist für einen ausgesprochen vagen Titel. Streichinstrumente fallen unter den sonst ungebräuchlichen Begriff „Saiteninstrumente“, ebenso wie Harfe und Klavier – wobei letzteres ja auch als Schlaginstrument bezeichnet werden könnte. Durch die Uneindeutigkeit befreit sich Bartók von einer klaren Gattungstradition. Stattdessen vermischt er eine ganze Reihe von traditionellen Gattungen: Die Aufstellung der Streicher in zwei Gruppen erinnert an die Musizierweise barocker concerti grossi, der folkloristisch ungarisch geprägte zweite Satz folgt formal frei der klassischen Sonatenform, während der letzte an ein französisches Rondeau erinnert. Strukturell unterwirft sich Bartók im ersten Satz den strengen Regeln einer Fuge, die ihren klanglichen Höhepunkt formal an der Stelle des goldenen Schnitts erreicht.
Die musikalische Analyse ließe sich schier endlos fortsetzen. Wenngleich interessant – nötig sind solche Kenntnisse beim Hören dieses Stückes aber nicht und das Geheimnis seiner Kraft mögen sie auch nicht abschließend zu entschlüsseln. Es zu erkunden, bleibt wohl der Hörerschaft immer wieder neu überlassen.
Das Konzerthausorchester Berlin spielt seit der Saison 2023/24 unter Leitung von Chefdirigentin Joana Mallwitz. Sie folgt damit Christoph Eschenbach, der diese Position ab 2019 vier Spielzeiten innehatte. Als Ehrendirigent ist Iván Fischer, Chefdirigent von 2012 bis 2018, dem Orchester weiterhin sehr verbunden.
1952 als Berliner Sinfonie-Orchester (BSO) gegründet, erfuhr das heutige Konzerthausorchester Berlin von 1960 bis 1977 unter Chefdirigent Kurt Sanderling seine entscheidende Profilierung und internationale Anerkennung. Seine eigene Spielstätte erhielt es 1984 mit Wiedereröffnung des restaurierten Schauspielhauses am Gendarmenmarkt. Zehn Jahre später wurde das BSO offizielles Hausorchester am nun umgetauften Konzerthaus Berlin und trägt seit 2006 dazu passend seinen heutigen Namen. Dort spielt es pro Saison mehr als 100 Konzerte. Außerdem ist es regelmäßig auf Tourneen und Festivals im In- und Ausland zu erleben. An der 2010 gegründeten Kurt-Sanderling-Akademie bilden die Musiker*innen hochbegabten Orchesternachwuchs aus.
Einem breiten Publikum auf höchstem Niveau gespielte Musik nah zu bringen, ist dem Konzerthausorchester wesentliches Anliegen. Dafür engagieren sich die Musiker*innen etwa bei „Mittendrin“, wobei das Publikum im Konzert direkt neben Orchestermitgliedern sitzt, als Mitwirkende in Clipserien im Web wie dem mehrfach preisgekrönten #klangberlins oder in den Streams „Spielzeit“ auf der Webplattform „twitch“. Die Verbundenheit mit Berlin zeigt sich im vielfältigen pädagogischen und sozialen Engagement des Orchesters mit diversen Partnern in der Stadt.
Iván Fischer, von 2012 bis 2018 Chefdirigent des Konzerthausorchesters und heute dessen Ehrendirigent, ist als einer der visionärsten Musiker unserer Zeit bekannt.
Mit dem Budapest Festival Orchestra, das er Mitte der 80er Jahre gründete, hat er zahlreiche Reformen eingeführt und etabliert. Mit Tourneen und einer Serie von Aufnahmen für Philips Classics und Channel Classics erwarb er sich den Ruf als einer der meist gefeierten Orchesterleiter der Welt.
Er rief mehrere Festivals ins Leben, darunter das Budapester Mahler-Fest, das „Bridging Europe“ Festival und das Vicenza Opera Festival. Das Weltwirtschaftsforum verlieh ihm den Crystal Award für seine Verdienste zur Förderung internationaler kultureller Beziehungen.
Er war Chefdirigent des National Symphony Orchestra in Washington und der Opéra National de Lyon. Ebenso ist er Honorary Guest Conductor des Royal Concertgebouw Orchestra, mit dem ihn eine jahrzehntelange Zusammenarbeit verbindet.
Iván Fischer studierte Klavier, Violine und Violoncello in Budapest, ehe er in Wien die legendäre Dirigierklasse von Hans Swarowsky besuchte. Nach einer zweijährigen Assistenzzeit bei Nikolaus Harnoncourt startete er seine internationale Karriere mit dem Sieg beim Dirigentenwettbewerb der Rupert Foundation in London.
Er gründete die Ivan Fischer Opera Company, mit der er unabhängige Opernproduktionen verwirklicht. Die Produktionen der IFOC wurden in New York, Edinburgh, Abu Dhabi, Berlin, Genf und Budapest gefeiert.
Seit 2004 ist Ivan Fischer auch als Komponist tätig. Seine Oper „Die rote Färse“ hat in der ganzen Welt für Schlagzeilen gesorgt; die Kinderoper „Der Grüffelo“ erlebte in Berlin mehrere Wiederaufnahmen; seine „Deutsch-Jiddische Kantate“ wurde in zahlreichen Ländern aufgeführt und aufgenommen.
Iván Fischer ist Gründer der Ungarischen Mahler-Gesellschaft und Schirmherr der Britischen Kodály Academy. Der Präsident der Republik Ungarn hat ihn mit der Goldenen Medaille ausgezeichnet, die französische Regierung ernannte ihn zum Chevalier des Arts et des Lettres. 2006 wurde er mit dem ungarischen Kossuth-Preis geehrt, 2011 erhielt er den Royal Philharmonic Society Music Award und den Dutch Ovatie Prize, 2013 wurde er zum Ehrenmitglied der Royal Academy of Music in London ernannt. Er ist Ehrenbürger von Budapest.
Der in Tel Aviv geborene Violinist und Dirigent Guy Braunstein studierte bei Chaim Taub und später in New York unter Glenn Dicterow und Pinchas Zukerman. Bereits in jungen Jahren begann er, als internationaler Solist und Kammermusiker aufzutreten. Seitdem konzertiert er mit vielen der größten Orchester und Musiker der Welt, unter ihnen Isaac Stern, András Schiff, Zubin Mehta, Maurizio Pollini, Yefim Bronfman, Daniel Barenboim, Sir Simon Rattle, Mitsuko Uchida und Angelika Kirchschlager. Im Jahr 2000 wurde Braunstein zum Konzertmeister der Berliner Philharmoniker ernannt, als bislang jüngster Träger des Titels. Er hatte die Position zwölf Jahre lang inne, bevor er beschloss, sich seiner Solokarriere zu widmen. Zu Braunsteins Höhepunkten in den letzten Jahren zählt seine Zeit als Artist-in-Residence bei den Trondheim Symphonikern in der Saison 2017/2018, in der er seinen musikalischen Facettenreichtum als Dirigent und Solist unter Beweis stellte. Auch kehrte er in den Pierre Boulez Saal zurück und gastierte mit den Symphonikern Hamburg in der Elbphilharmonie. Seit 2018 ist Guy Braunstein zudem Künstlerischer Leiter des clasclas Festivals in Galizien. Auf seinem Solo-CD-Debüt, das im April 2019 auf Pentatone erschienen ist, präsentiert Guy Braunstein neben Tschaikowskys berühmtem Violinkonzert auch Neuadaptionen von Tschaikowsky-Klassikern. Es begleiten ihn dabei Kirill Karabits und das BBC Symphony Orchestra.
Guy Braunstein spielt eine seltene Geige von Francesco Roggieri aus dem Jahr 1679.